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Er war dann mal für immer weg

Lesen und Gehen – das passt auf den ersten Blick nicht zusammen. Die ungemütliche Unsitte des coffee to go hat noch keinen Boom des book to go nach sich gezogen. Und doch gibt es sie: anspruchsvolle Wanderprosa, die von der Bewegung in der Natur und vor allem von dem handelt, was das Gehen mit unserem Kopf anstellt. Die Niederländerin Miek Zwamborn verschränkt die Verlustgeschichte ihres Wanderfreundes Jens mit der Biografie des Schweizer Geologen Albert Heim. Es ist die Geschichte einer Therapie, bei der sie in den Spuren eines vermutlich toten Wanderers einem vergessenen Alpinisten neues Leben einhaucht.

Zwamborn, Jahrgang 1974, ist am stärksten, wenn sie ihre Wanderungen mit detailgenauer Empirie beschreibt. Mit Jens bei der Besteigung des über 3600 Meter hohen Tödi: die Kälte, die gefährliche Überquerung von Gletscherspalten, die schmerzenden Muskeln und das Gefühl totaler Einsamkeit: „Alpenkrähen kreisten über dem Gletscher, Scherenschnitte von Vögeln vor dem weißen Hintergrund. Ich stellte unsere leeren Wasserflaschen unters Wellblechdach, fixierte sie mit Schnee und lauschte den am Rand und im Innern der Flaschen zerplatzenden Tropfen.“

Warum der Zürcher Extremwanderer und Eigenbrötler Jens irgendwann einfach verschwindet, klärt das Buch nicht auf. Ob er abstürzte, sich umbrachte oder einfach den Kontakt zur Mitwelt abbrach – auch die Erzählerin bekommt das nicht heraus. Das Buch vom Treffen am Ende der Welt wird indes zur lohnenden Lektüre, weil es die Leidenschaft der Autorin für die Geologie thematisiert. In dumpfer Trauer flüchtet sie sich in die Biografie des Geologieprofessors Heim, der sein Fach als gültige Vermessung der Welt, als Erzählung planetarer Dauer und als Lektion humaner Demut begreift: „Jeder Berg wird einmal flach sein.“ Warum man ihn vorher dann so genau begehen und vermessen muss – das können wohl nur Nichtgeologen fragen.

Mit Heim, der trotz einer Gehbehinderung zum großen Bergbesteiger sowie zum Initiator der ersten Ballonüberquerung der Alpen wurde, ist die Erzählerin endlich nicht mehr allein. Die etwas dünne Handlung lebt von der Spurensuche nach Alpenmodellen und Manuskripten Heims in allerhand universitären und musealen Depots, aber auch von wunderlichen Exkursen. So erfahren wir von gewaltigen Erdrutschen, die im englischen Lyme Regis Anfang des 19. Jahrhunderts zu Geologietourismus führten, von den ersten nachgebauten Dinosauriern bei der Londoner Weltausstellung 1851 oder von der Seiltänzerin Maria Spelterini, die in immer aberwitzigeren Fesselungen die Niagarafälle überquert – und dreißig Jahre nach dem ersten gelungenen Versuch in die tödlichen Fluten stürzt.

Ob solche skurrilen Vignetten auf historischer Wahrheit beruhen? Ob wir die inneren Monologe aus der Vergangenheit für bare Münze nehmen können? Das tut in Zwamborns dichter Prosa – gespickt mit ein paar Jugenderinnerungen und Reiseberichten – irgendwann nichts mehr zur Sache. Die Lektüre wird zu einer therapeutischen Wanderung ohne feste Route und erinnert weniger an Klassiker des Genres wie Jürgen von der Wenses wüst-expressionistische „Wanderjahre“ als an die biografischen Recherchen von W.G. Sebald, der die Rehabilitierung von Vergessenem zum Anliegen der Literatur machte. Die Gestalt von Jens wird bei dieser récherche d’ami perdu freilich nicht wirklich greifbar, sollte sie vielleicht auch gar nicht. Stattdessen formt Miek Zwamborn in ihrem deutschen Erstling die eigene Weltsicht eigenwillig aus. Alles beruht auf einer kargen Lebensweise des Unterwegsseins, des Freiheitsgefühls mit Zelt und Rucksack, des neugierigen Stöberns im Bauch der Erde und auf dem melancholischen Wissen um die Vergeblichkeit: „Einfachheit ist ein Merkmal des Wahren.“

Damit ist Zwamborn gar nicht so fern vom landestypischen Calvinismus und dicht beim niederländischen Klassiker Willem Frederik Hermans, der in „Nie mehr schlafen“ die komisch-brutalen Katastrophen einer geologischen Lapplandfahrt gleichfalls zur Metapher fürs Leben an sich stilisierte. „Beim Wandern“, so Zwamborn lakonisch, „wird alles logisch.“ Beim Schreiben darüber – und das ist gut so – nicht.