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Im Meer der Zeit

Es ist Bergroman, Trauerbuch und Biografie von Albert Heim: Das Buch der Niederländerin Miek Zwamborn ist aber vor allem eine eigenwillige Suche nach sich selbst.

«Im Meer der Zeit nimmt alles ein Ende», schreibt die Holländerin Miek Zwamborn in ihrem Roman «Wir sehen uns am Ende der Welt». In dem Buch schickt sie ihre Erzählerin mit deren Wanderfreund Jens auf eine mehrtägige Bergtour, die sie auf den Gipfel des Tödi führen soll, den höchsten Berg der Glarner Alpen. Wobei der Tödi das nicht immer war. Bei der Entstehung dieses Gebirges schoben sich alte Gesteinsschichten über jungen Flysch und Kalkstein. Der höchste Punkt der Glarner Überschiebung lag ursprünglich weit oberhalb des Tödi. «Jeder Berg wird einmal flach sein», sagt Jens.

Nachgebaute Berge
Die Faszination der Erzählerin für den Tödi hat einen Grund: Von diesem Berg fertigte der Schweizer Alpenforscher Albert Heim (1849–1937) das erste seiner Reliefs an, für die er berühmt werden sollte. Durch Zufall war sie in der ETH in Zürich auf die Alpenreliefs gestossen und von der Schönheit der nachgebauten Berge fasziniert. Einmal hatte sie bereits versucht, auf Heims Spuren den Berg zu besteigen. Damals zwang ein Unwetter sie zum Umkehren. Diesmal zeigt Jens Ermüdungsanzeichen. «Ich will keine Berge mehr sehen», sagt er. Was sie da noch nicht weiss: Es ist das letzte Mal, dass sie mit Jens zusammen loszieht. Schon immer stromerte der Freund durch die Natur, nach dieser Tour jedoch bleibt Jens verschollen.

Jens’ Verschwinden ist der Ausgangspunkt einer Suche, auf die die Erzählerin die Leser mitnimmt. So wie sie und der Freund in einem ehemaligen Bergwerk im Unterengadin sich ein Netz aus Fäden entlanghangelten, um sich nicht zu verirren, hangelt sie sich die Erinnerungen an Jens entlang. Sie reist zu den Orten, von denen er ihr erzählt hat, und wandert gemeinsam gemachte Touren nochmals ab. Dabei entsteht ein assoziatives Textkonglomerat, mit wiederkehrenden Motiven, Leerstellen und zahlreichen eingestreuten Schwarzweissfotografien, mit denen die auch als bildende Künstlerin tätige Autorin den Text illustriert, ihn aber auch irritierend in der Wirklichkeit verankert.

Von Jens und der gemeinsamen Liebe zu den Bergen dringt die Erzählerin dabei vor zu der Lebenswelt Albert Heims: zu dessen Fähigkeit, die Geologie zum Leben zu erwecken, seinem Staunen über die sich verändernde Landschaft, seiner leidenschaftlichen Beobachtungsgabe. «Ich vergass es, dieses 21. Jahrhundert, und streifte durch eine Periode, in der nichts feststand und die ganze Welt noch vermessen werden musste», lässt Zwamborn ihre Figur sagen. Wie bei der Überlagerung von Gesteinsschichten schiebt sich der Schweizer Geologe zunehmend über die Erinnerungen an Jens.

Schatten zweier Männer
Es ist ein Text von eigenwilliger Poesie, bei dem sich die Autorin von der Vorstellung von Sedimenten als versteinerten Zeitschichten hat leiten lassen. Die 1974 geborene Niederländerin lebte mehrere Jahre im Engadin. Mit ihrer Erzählerin teilt sie die Faszination für Berge, Steine und Geologie. Über die Beschäftigung mit Heim lässt sie deren Trauer in den Hintergrund treten. «Ich war nicht länger allein, Heim und Jens begleiteten mich, die Schatten zweier Männer. Heim ging vor mir her, fast konnte ich nach seinen Rockschössen greifen.»