Als kleines Kind schon hat sie Steine gesammelt. Hat diese Steine mit der Angelschnur zusammen gebunden, damit niemand sie stehlen konnte. Als sie älter wurde, wollte Miek Zwamborn dann endlich grössere Steine sehen und fing an zu wandern.
Die holländische Autorin kaufte sich ein Häuschen im Engadin und verbringt seitdem regelmässig Zeit in den Schweizer Alpen. «Beim Wandern», sagt die Flachländerin, «denkt man im besten Fall gar nichts.» Soeben ist ihr Roman «Wir sehen uns am Ende der Welt» auf Deutsch erschienen. Ein Bergroman. Wie sollte es anders sein.
Spuren und Schriften
«Wandern half gegen die schier unerträgliche Leere. […] Haarscharf raste die Landschaft an mir vorbei. Ich wollte verschwinden, versuchte zu verschwinden, von den Bergen verschlungen zu werden.» Jens, der Freund der Ich-Erzählerin ist verschwunden. In den Bergen. Zu einer Wanderung aufgebrochen und nie wieder zurückgekehrt. Sie – die Frau ohne Namen – geht auf Spurensuche und wandert seine, ihre gemeinsamen Wanderungen ab.
Sie ahnt, dass sie ihn nie wieder sehen wird. Aber wird sie sein Phantom abschütteln? Die Trauer um ihn? Im Meer der Zeit nimmt alles ein Ende. Auf ihren Reisen entdeckt sie die Schriften von Albert Heim, dem berühmten Schweizer Geologen. Sie vergräbt sich immer mehr in seine Arbeiten, seine Biographie. «Ich vergass es, dieses 21. Jahrhundert, und streifte durch eine Periode, in der nichts feststand, in der die Natur die Wissenschaft vor Rätsel stellt und die ganze Welt noch vermessen werden musste.»
Die Frau mit zwei Schatten
Ursprünglich wollte Miek Zwamborn einen Roman schreiben, der nur von Steinen handelt und ohne Personen auskommt. Zufällig entdeckte sie bei ihrer Recherche in der ETH Zürich die Modelle von Albert Heim. Dort habe sie verstanden, dass man nicht nur Steine sammeln oder wandern gehen könne, sondern dass man Berge auch mit Händen machen könne. Kleine Berge. Wie ihre Protagonistin hat sie sich ins Archiv gestürzt. Fasziniert von diesem Forscher, der unermüdlich verstehen wollte, wie die Alpen entstanden sind. Wie Natur in Bewegung ist.
Sie seziert ihre Trauer, die Spuren, aus denen sie besteht, auf denen sie wandert. «Ich war nicht länger allein, Heim und Jens begleiteten mich, die Schatten zweier Männer. […] Diesmal fühlte es sich an, als hätte Heim mich selbst eingeladen. Er ging ein paar Meter vor mir her, fast konnte ich nach seinen Rockschössen greifen.»
Vermessung der Gefühlswelt
Heims Geschichte stülpt sich unmerklich über die Erinnerungen an Jens. Wie in einer tektonischen Versuchsanordnung lässt Zwamborn die emotionalen Gesteinsschichten miteinander ringen. Und schiebt Jens immer weiter weg.
Zwamborn ist damit ein ausserordentlicher Roman gelungen. Ein faszinierend poetischer Versuch, den Prozess des Trauerns so präzise einzufangen wie es geologische Messungen mit jeder Erhebung der Alpen machen.